Interview RG

Über das Verhältnis von Bildung, Beratung und Coaching

Auszüge aus einem Interview von Prof. Dr. Monika Zimmermann mit Prof. Dr. Rolf Göppel

Für meinen aktuellen Herausgeberband zum Themenfeld interdisziplinäre Coaching-Ausbildung (Carl Auer Verlag) arbeite ich mit Lehr-Therapeut*innen, Lehr-Coaches, Forschern, Lehrenden, Coaches und Führungskräften zusammen, die im Bereich Coaching – aus meiner Sicht – wirklich etwas zu sagen und an „den Nachwuchs“ weiterzugeben haben. Anhand ihrer Expertise sollen die „wahren“ Grundlagen von wirksamen Coaching-Prozessen analysiert und diskutiert werden.

In diesem Rahmen habe ich am 03. März 2022 ein Interview mit Prof. Dr. Rolf Göppel geführt. Er ist mein langjähriger Wegbegleiter und Freund und Professor für Allgemeine Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg sowie ehemaliger Vorsitzender der Kommission »Psychoanalytische Pädagogik« der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE). Im Gespräch hat er sein Verständnis von Bildung sowie seine Einschätzung zum Verhältnis von Coaching zu Bildung erläutert. Als ausgewiesener Experte zum Thema Bildung gibt er dem Coaching-Bereich wertvolle Impulse von außen – quasi aus Adler-Perspektive – und hält der Branche kritisch-konstruktiv den Spiegel vor.

Frage: Was verstehst Du unter Bildung?

Wie bei so einer „riesengroßen Frage“ nicht anders zu erwarten, gab Rolf Göppel als Antwort nicht eine endgültige Definition, sondern eine vielschichtige Erklärung, in welche verschiedenste Perspektiven miteinfließen: Ich denke, man kommt nicht umhin, diesen schillernden, facettenreichen Begriff zu umkreisen und bestimmte Aspekte, bestimmte Traditionen, die damit zusammenhängen, zu benennen und einzufangen. In meinem Verständnis muss man unterschiedliche Aspekte im Blick haben.“

Folgende Gesichtspunkte gehören seiner Meinung nach zu einer solchen Umkreisung von Bildung:

  • Die geistige Formung des Menschen
    „Ganz allgemein gesprochen, geht es um die geistige Formung des Menschen, um die Auseinandersetzung mit der Welt, mit den Gehalten der Kultur.“
  • Die individuelle Resonanz von Kultur
    „Bildung auf der individuellen Ebene ist die Entsprechung dessen, was auf der kollektiven Ebene Kultur ist, also die subjektive Aneignung, Widerspiegelung und Resonanz auf all die bedeutsamen Errungenschaften, die die Menschheit in Sachen Kunst, Literatur, Musik, Wissenschaft, Philosophie usw. hervorgebracht hat.“[1]
  • Das Gegenteil von Chauvinismus
    „Bildung ist das Gegenteil von dumpfbackigem Chauvinismus, von Kultur-Überlegenheitsdünkel oder Nationalismus, der meint, dass gerade die Gegebenheiten der eigenen Gruppe, der eigenen Nation, der eigenen Rasse o.ä. das Weltbeste seien, alles andere überstrahlen und alles andere dagegen minderwertig sei. Bildung hat also immer auch mit einer kulturellen Offenheit, mit Weltbürgertum, mit Neugierde, mit Respekt für andere Kulturen und Lebensformen zu tun.“
  • Ein Sinn gebender Schlüsselbegriff der Pädagogik
    “Aus Sicht der Pädagogik ist Bildung der zentrale Schlüsselbegriff, der dem ganzen pädagogischen Geschäft überhaupt erst Sinn und Ziel gibt. Als Leitbegriff steht sie über der Frage, was, warum, wie und in welcher Art in der Schule gelehrt werden soll, womit sich die Kinder und Jugendlichen dort beschäftigen sollen, warum sie damit ihre kostbare Lebenszeit verbringen sollen.“
  • Die Grundlage der Demokratie
    „Bildung ist auch Voraussetzung und Lebenselixier für das Funktionieren der Demokratie. Autokratien brauchen und wollen gehorsame Untertanen, wohingegen Demokratien gebildete, informierte, skeptische, urteilsfähige und verantwortliche Bürger brauchen, um auf Dauer funktionieren zu können.”[2]
  • Die empirische Bildungsforschung und ökonomischer Blick der PISA
    „Hier wird erforscht, welche Effekte, welche Leistungen Bildungssysteme haben. Da werden basale Kompetenzen in den Blick genommen. Sicherlich sind diese wichtig und notwendig, ohne lesen, schreiben und rechnen zu können, ist auch anspruchsvollere Bildung nicht möglich.
    Da PISA von der OECD, also einer ökonomischen Organisation ausgeht, steht die Frage, welchen Beitrag das Bildungssystem zur Wohlfahrt eines Staates hat, im Vordergrund. Es geht um Humankapital und um Dividenden, die Investitionen in den Bildungssektor für den Fortschritt der Nationalökonomie bringen.“
  • Der humanistische Bildungsbegriff und Würdigkeitsanspruch an das Leben
    „Im klassischen humanistischen Bildungsbegriff geht es darum, das ganze Leben unter einen bestimmten Anspruch zu stellen, nämlich dem Leben eine möglichst würdige, also dem Menschengeschlecht würdige Form zu geben, sein Leben nicht unter Wert zu leben, sondern das Beste daraus zu machen, es als Projekt selbst zu gestalten und es in eine „schöne, runde, gefällige, harmonische Form“ zu bringen, um mit Humboldt zu sprechen.“

Auf meinen Einwand, dass, meiner (Coaching-) Erfahrung nach, gerade dieses humanistische Bildungsverständnis bei manchen Menschen in einen Optimierungswahn umschlägt, stimmt er mir zu: Das ist die Kehrseite, die schon in diesem klassischen Bildungsideal steckt, dass Bildung dann schnell zur Pathos-Formel wird.“
Die Vollkommenheitsvorstellungen und -ansprüche, welche dieses Bildungsverständnis hervorruft und von unserer aktuellen Leistungsgesellschaft bestärkt werden, bleiben natürlich unerreichbar. Dennoch gibt es auch Coaching-Angebote, die suggerieren, dass sie es ermöglichen, diesem Optimierungswahn zu folgen und ihn erfüllen zu können.

In diesem Kontext diskutieren wir einen weiteren unerlässlichen Aspekt von Bildung (und m. E. professionellem Coaching): Skepsis. Skepsis manchen Bildungsverständnissen sowie dem Bildungsmarkt und der Coaching-Branche, gegenüber.

Als Außenstehender im Punkto Business Coaching hinterfragt er, welche Bedeutung Coaching in diesem Zusammenhang hat: „Ist es einfach eine schöne Bereicherung, eine tolle Möglichkeit Bildung voranzubringen? Ist eine Welt wünschenswert wäre, wo jeder einen professionellen Coach als Begleiter zur Seite gestellt hätte, um ihm dabei zu helfen, seine Potenziale zu verwirklichen?“
Er weist darauf hin, dass „Coaching ein marktförmiges Angebot“ ist, so dass man kritisch betrachten muss, welche Interessen und Profite hier mitspielen. M. E. zurecht merkt er auch an, dass der Coaching-Markt, trotz Bemühungen seitens verschiedener Coaching-Verbände und auch mir selbst, nach wie vor ziemlich grau und undurchsichtig ist.

 „Dient Coaching der Humanisierung der Arbeitswelt oder dient es eher der Optimierung, letztendlich der stärkeren Konkurrenz und der stärkeren Selbstausbeutung der Menschen, die sich noch fitter machen wollen, um sich in Konkurrenz zu anderen einen Vorteil zu verschaffen?“
Laut Rolf Göppel ist das die Gretchenfrage für den gesamten Coaching-Bereich. In meinem Verständnis und meiner persönlichen Erfahrung nach ist natürlich ersteres der Fall. Auch einige Studien zur Wirksamkeit von Coaching deuten dies an,[3] wobei Rolf Göppels Aufruf zu mehr Studien und Forschung in diesem Bereich in Zukunft hoffentlich nachgegangen wird.


Herzlichen Dank lieber Rolf für Deine wertvollen Einblicke und kritisch-konstruktiven Anregungen.

Das vollständige Interview wird voraussichtlich im März 2023 in meinem Herausgeberband zum Thema Coaching-Ausbildung beim Carl Auer Verlag erscheinen. Weitere Informationen hierzu folgen.

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[1] Angelehnt an Hermann Nohl (1988): Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie (orig. 1935. 10. Auflage, Frankfurt: Klostermann) S. 177.

[2] Angeregt von Julian Nida-Rümelin (2013): Philosophie einer humanen Bildung (Hamburg: Edition Körber Stiftung).

[3] Vgl. Silja Kotte (2021): „Wirksamkeit von Coaching“, in Christopher Rauen (Hrg.): Handbuch Coaching (4. Auflage, Göttingen: Hofgrefe), Kapitel 11: S. 277-290)

1 Kommentar zu „Über das Verhältnis von Bildung, Beratung und Coaching“

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