Impulse aus der Supervision mit Matthias Ohler am 22. August 2025
Einleitung: Ein exklusiver Raum für Reflexion
Supervision bietet uns immer wieder die Gelegenheit, innezuhalten, gemeinsam zu reflektieren und mit einem neuen Blick auf komplexe Situationen zu schauen. Im Rahmen unseres Alumni-Programms „Club der Perspektivenwechsler“ hatten wir das Privileg, eine Supervision mit Matthias Ohler (Geschäftsführer Carl-Auer-Systeme Verlag und Carl-Auer Akademie) zu erleben. Dieses Format ist Teil unseres exklusiven Angebots für Absolventinnen und Absolventen der Coaching-Ausbildung am Zentrum für interdisziplinäres Coaching. Es schafft einen geschützten Raum, in dem wir unsere Erfahrungen teilen, schwierige Fälle bearbeiten und vor allem neue Perspektiven gewinnen.
Die Begegnung mit Matthias war in vielerlei Hinsicht inspirierend. Er brachte nicht nur seine fachliche Expertise und systemische Haltung ein, sondern auch eine besondere Sprache und Bilder, die uns nachhaltig in Erinnerung bleiben. Besonders prägend war seine Erklärung des Kairos – jenes günstigen Moments, den es im Leben und in der Arbeit zu erkennen und zu nutzen gilt. Doch bevor wir auf diese Metapher eingehen, lohnt es sich, einen Blick auf sein Verständnis von Supervision zu werfen.
Supervision als Prozess auf Augenhöhe
Für Matthias bedeutet Supervision weit mehr als die Bearbeitung einzelner Fälle. Er versteht sie als Prozess des gemeinsamen Hinschauens – ein Dialog, in dem alle Beteiligten ihre Perspek-tiven einbringen, erweitern und neu zusammensetzen. Der Begriff supervidere – von oben oder von außen sehen – dient ihm als Leitbild. Supervision ist für ihn der Versuch, ein System von außen in seiner Vielfalt zu betrachten und „blinde Flecken“ sichtbar zu machen.
Dabei betont er die Augenhöhe zwischen allen Beteiligten. Supervision ist für ihn keine hierar-chische Belehrung, sondern ein Raum, in dem die Diversität der Perspektiven produktiv mode-riert wird. Der Supervisor ist weder Besserwisser noch verdeckter Entscheider. Vielmehr ver-steht er sich als Impulsgeber, der Hypothesen anbietet, ohne sie absolut zu setzen. Jede Inter-vention ist für ihn ein Angebot – nicht mehr und nicht weniger.
Diese Haltung prägt auch seine Sprache. Immer wieder kennzeichnet er eigene Deutungen als Hypothesen. Damit bleibt er offen für Irrtümer und lädt die Supervisanden ein, seine Gedanken zu prüfen und weiterzuführen. Auf diese Weise entsteht ein Prozess, der nicht von fertigen Ant-worten lebt, sondern von gemeinsamem Nachdenken und Weiterfragen.
Die Kraft der Fragen
Ein zentrales Werkzeug in Matthias‘ Supervision ist das Fragenstellen. Fragen sind für ihn keine reinen Informationsabfragen, sondern methodische Interventionen, die Denkprozesse anstoßen. So nutzt er zirkuläre Fragen, um die Perspektiven verschiedener Beteiligter sichtbar zu machen, und hypothetische Fragen, um gedanklich neue Räume zu eröffnen.
Besonders eindrücklich sind seine paradoxen Fragen – etwa die Aufforderung, sich zu überlegen, was man tun müsste, um einen Auftrag garantiert nicht zu bekommen. Solche Umkehrungen entlarven festgefahrene Muster und zeigen, welche Faktoren wirklich entscheidend sind. Fragen dienen bei ihm also nicht nur der Analyse, sondern sind Katalysatoren für Erkenntnisse.
Auch im Coaching sind diese Techniken zentral – und genau hier zieht Matthias die Verbindung. Was in der Supervision wirkt, kann ebenso im Coaching zum Einsatz kommen: Fragen, die nicht sofort Antworten verlangen, sondern Denkbewegungen auslösen.
Er prägt hierfür das Bild „in fragender Bewegung bleiben“. Einerseits, um vorschnelle Annahmen und Hypothesen auf Seiten des Coaches (wie auch des Supervisors) zu verhindern, andererseits, um bei den Klient:innen entwicklungsförderliche Erkenntnisse zu ermöglichen.
„Ich möchte dazu einladen, sich in diesem besten Sinne Sorgen um sich selbst zu machen und dabei in der fragenden Bewegung zu bleiben.” (Ohler 2024, S. 151)
Literaturhinweis:
Ohler, M. (2024): Coachen ist ein Verb – Philosophieren im und über Coaching. In: M. Zimmermann (Hrsg.): Coaching – zum Wachstum inspirieren. Ein interdisziplinäres, integratives Hand-buch. Heidelberg (Carl-Auer), S. 139-152.
In unserer Kolumne „Der Fragen-Stupser – 365 hilfreiche Fragen im Coaching“ befassen wir uns ausführlicher mit dem Thema und geben einen Ausblick auf den 2026 erscheinenden Coaching-Band „Du bist die Methode. Professionell Coachen durch Interdisziplinarität und Perspektivenreichtum“, herausgegeben von Prof. Dr. Monika Zimmermann und Janine Wunder, in welchem sich ein ganzes Kapitel der Bedeutung von Fragen im Caching widmet.
Kairos: Den günstigen Moment erkennen
Besonders eindringlich wurde die Supervision, als Matthias die Metapher des Kairos einführte. Er beschrieb Kairos, eine Figur aus der griechischen Mythologie, als Personifikation des günstigen Moments. Anders als die lineare Zeit (Chronos) steht Kairos für den Augenblick, in dem sich eine Gelegenheit öffnet – ein Moment, der nicht beliebig wiederholbar ist.
Matthias schilderte die Darstellung des Kairos: eine Gestalt mit einem Schopf am Vorderkopf, aber einem kahlen Hinterkopf. Nur wer den Kairos frontal ergreift, kann ihn festhalten – ist er einmal vorbeigegangen, gleitet er durch die Finger. Daraus stammt die Redewendung, man müsse die „Gelegenheit beim Schopf packen“.
Übertragen auf die Supervision bedeutet dies: Wir können viele Themen vorbereiten, analysieren und durchdenken. Doch der eigentliche Durchbruch geschieht oft im Augenblick, wenn die Bedingungen stimmen, das Team bereit ist und eine Intervention zur rechten Zeit fällt. Dieser Moment lässt sich nicht erzwingen. Er lässt sich nur wahrnehmen, begünstigen und nutzen.
Damit macht Matthias deutlich, dass Timing in Supervision und Coaching entscheidend ist. Der Kairos-Moment ist flüchtig, aber wenn wir ihn erkennen, kann er eine erstaunliche Kraft entfalten. In diesem Augenblick öffnen sich neue Möglichkeiten: Sei es für eine Entscheidung, für das Aussprechen einer Wahrheit oder für eine Veränderung, die zuvor unmöglich schien.
Bedeutung für unsere Alumni
Für unsere Alumni der Coaching-Ausbildung und jetzigen Clubmitglieder ist diese Metapher besonders wertvoll. Sie erinnert daran, dass Coaching und Supervision nicht nur von Methoden, Tools und Konzepten leben, sondern von der Fähigkeit, den richtigen Moment zu erspüren.
In der Supervision mit Matthias wurde spürbar, wie wichtig es ist, nicht vorschnell Lösungen vorzugeben, sondern aufmerksam auf Signale zu achten: Wann ist das System bereit für eine Veränderung? Wann lohnt es sich, eine Frage zu stellen oder eine Hypothese einzubringen? Und wann ist es klüger, noch zu warten?
Die Kairos-Metapher macht Mut, wachsam zu bleiben und Chancen nicht verstreichen zu lassen. Sie lehrt uns zugleich Demut: Nicht alles liegt in unserer Kontrolle. Doch was wir beeinflussen können, ist unsere Präsenz im Augenblick, die Bereitschaft, das Unvorhersehbare aufzugreifen, wenn es sich zeigt.
Das Alumni-Programm „Club der Perspektivenwechsler“ schafft den Raum, genau solche Impulse zu erleben. Es ist ein Forum, in dem wir uns austauschen, gemeinsam reflektieren und voneinander lernen. Und es ist ein Ort, an dem wir – unterstützt von erfahrenen Supervisoren wie Matthias – unseren eigenen Kairos-Moment finden können. Weitere Informationen zum Club der Perspektivenwechsler und dessen exklusive Angebote für die im Zentrum ausgebildeten Coaches findet Ihr hier: Perspektivenwechsler.
Der Club der Perspektivenwechsler
Der Club der Perspektivenwechsler ist ein exklusives Angebot für Absolvent:innen der Coaching-Ausbildung am Zentrum für interdisziplinäres Coaching. Er bietet einen professionellen Rahmen zur kontinuierlichen Reflexion, Supervision und kollegialen Weiterentwicklung jenseits der Ausbildungszeit. Mit seinem Fokus unter anderem auf regelmäßige Supervision durch erfahrene Lehrende schafft der Club ein verbindliches, lebendiges Netzwerk für professionelle Coaches.
Die insgesamt sechs Supervisionseinheiten pro Jahr finden virtuell statt und werden durch ausgewählte Supervisor:innen begleitet, darunter renommierte Persönlichkeiten wie Matthias Ohler, Dr. Gunther Schmidt oder Prof. Dr. Jürgen Kriz.
Impuls: Reflexionsbericht als Selbst-Supervision
Im Verlauf der Supervision schlug Matthias eine ungewöhnliche, aber wirkungsvolle Methode vor: Er regte an, dass sich die Supervisandin selbst den Auftrag geben könnte, einen schriftlichen Bericht zu verfassen. Darin solle sie festhalten, was sie in der Organisation gesehen habe und welche Vorstellungen oder Ideen ihr dazu gekommen seien. Der Bericht müsse nicht offiziell weitergegeben werden, er könne ganz für sie selbst bestimmt sein.
Um eine hilfreiche Distanz zu schaffen, empfahl Ohler sogar, den Text in der dritten Person oder unter einem anderen Namen zu schreiben. Auf diese Weise entsteht ein geschützter Raum, in dem Beobachtungen, Gedanken und Hypothesen unbefangen formuliert werden können.
Der Nutzen dieser Methode liegt in mehrfacher Hinsicht auf der Hand: Zum einen erlaubt das Schreiben, die Vielzahl von Eindrücken zu ordnen und in eine klare Form zu bringen. Zum anderen eröffnet es die Möglichkeit, sich innerlich von der Situation zu lösen und eine neue Perspek-tive einzunehmen. So kann Klarheit entstehen, ohne direkt in Konfrontation mit dem Auftragge-ber gehen zu müssen.
Matthias betonte, dass ein solcher Bericht auch dann sinnvoll sei, wenn er zunächst „nur in der Schublade“ liege. Später könne er – falls es sich ergäbe – immer noch der Organisation zur Verfügung gestellt werden. Zunächst aber diene er vor allem der Selbstsupervision: einem strukturierten Prozess der Selbstbeobachtung, der es ermöglicht, eigene Impulse in konstruktive Bahnen zu lenken, auch wenn das Mandat für direkte Interventionen fehlt.
Fazit: Den eigenen Kairos suchen
Die Supervision mit Matthias hat uns gezeigt, wie fruchtbar es sein kann, Supervision als gemeinsames Erkunden zu verstehen und nicht als Abgabe von Ratschlägen. Seine Haltung der Augenhöhe, sein spielerischer Umgang mit Hypothesen und sein geschickter Einsatz von Fragen haben uns neue Denkwege eröffnet.
Vor allem aber hat seine Erläuterung des Kairos eine nachhaltige Wirkung entfaltet. Sie erinnert uns daran, dass es in Coaching und Supervision immer auch um das Gespür für den richtigen Moment geht.
Wir nehmen aus dieser Erfahrung mit: Der Kairos ist flüchtig, aber wenn wir wachsam sind, können wir ihn ergreifen und dann entfalten sich oft genau die Entwicklungen, die zuvor unmöglich schienen.
Herzlichen Dank, lieber Matthias, für Deine Inspiration und Deine Perspektiven.
Steckbrief
Matthias Ohler
Philosoph, Linguist, Systemischer Berater & Coach, Musiker, Sänger & Chorleiter. Praktizierender Atmosphäriker. Geschäftsführer der Auer & Ohler GmbH Heidelberger Kongressbuchhandlung. Mitbegründer des Ludwig-Wittgenstein-Instituts, Leiter der Carl-Auer Akademie, Geschäftsführer des Carl Auer Verlags, Dozent für Weiterbildungsinstitute und Hochschulen
Im Herausgeberband “Coaching – zum Wachstum inspirieren” von Monika Zimmermann ist auch Matthias Ohler vertreten mit dem Kapitel “Coachen ist ein Verb – Philosophieren im und über Coaching”
„Dieses Buch stellt Coaching in seiner heutigen Vielfalt vor, die sich aus den unterschiedlichen Wurzeln in diversen Disziplinen und Grundorientierungen ergibt. Die übergreifende Leitidee des Wachstums verbindet wirtschaftliche mit menschlicher Entwicklung.
In drei Sektionen werden relevante, unterschiedliche Perspektiven auf Coaching, Beratung und Führung und die einschlägigen Schulen dargestellt.
Die Leser:innen erhalten einen orientierenden Überblick und so die Möglichkeit, den eigenen Professionalisierungsprozess gemäß individuellen Präferenzen und Perspektiven zu intensivieren.“
Prof. Dr. Jürgen Kriz, Universität Osnabrück