Gruppen-Coaching gehört bei vielen Coachs zum Standardrepertoire. Sei es bei Konfliktlösung, gemeinsamer Lösungsfindung oder Weiterentwicklung als Team, Coachs werden oft auch bei Gruppen-Anliegen zu Rate gezogen. Natürlich unterscheidet sich ein Coaching maßgeblich, wenn dem Coach plötzlich nicht mehr nur eine Person, sondern eine ganze Gruppe von Personen gegenüber sitzt. Welche Möglichkeiten das Gruppen-Setting bietet und wie ein Coach dieses navigieren kann, um alle Klient*innen bestmöglich zu unterstützen, schauen wir uns hier genauer an. (Dabei nehmen wir vornehmlich eine person-zentrierte Perspektive ein, mehr zu diesem Ansatz hier.)

Wie entsteht eine wirkungsvolle Gruppendynamik?
Eine Gruppe wird nicht einfach gebildet, sie entsteht. Aus einer Anzahl von Individuen entsteht etwas Neues, das, wie die Gestalttherapeuten es ausgedrückt haben, „mehr ist, als die Summe seiner Teile“. Die Entstehung einer Gruppe lässt sich, nach Charles Devonshire (1989, übersetzt von Josef Geider), in folgende acht Phasen einteilen:
- Partygespräch:
Mögliche Charakteristika sind anfängliche Unsicherheit und Verwirrung, als unangenehm erlebtes Schweigen, unverbindliche und oberflächliche Kontakte, typischer „small talk“, Frustration und fehlende Kontinuität etwa in Form von häufigem Wechsel der Gesprächsthemen.
- Vermeidung persönlicher Gesprächsinhalte:
Private Informationen werden absichtlich zurückgehalten. Das erscheint oft wie eine Spaltung zwischen „innerem Selbst“ und „äußerem Selbst“. Man stellt sich so dar, wie man gesehen werden möchte. Unsicherheiten, Minderwertigkeitsgefühle und andere möglicherweise wenig vorteilhafte soziale Eigenschaften werden zurückgehalten zugunsten einer Art schützender Fassade. Gesprochen wird vorwiegend über äußere Sachverhalte oder auch eigenes Erleben, aber ohne besondere emotionale Beteiligung (inneres Erleben).
- Beschreibung von Gefühlen in der Vergangenheit:
Trotz häufiger Ambivalenz bezüglich der Vertrauenswürdigkeit in einer Gruppe (oder einem Zwei-Personen-Kontakt) und dem Risiko, das mit einer offenen Selbstdarstellung verbunden sein kann, werden hier Gefühle ausgedrückt. Diese Gefühle beziehen sich jedoch größtenteils auf Vergangenes oder es sind sogar nur Berichte über Gefühle in der Vergangenheit.
- Ausdrücken aktueller negativer Gefühle:
Das erste Ausdrücken von aktuellen Gefühlen findet in der Regel bezüglich negativer Gefühle statt. Das sind häufig negative Gefühle gegenüber anderen Gruppenmitgliedern, gegenüber dem Gruppenleiter oder auch allgemein dem anwesenden Gesprächspartner. Man kann manchmal dabei den Eindruck eines „Vertrauenstests“ gewinnen im Sinne von „Was darf ich mir hier leisten?“, also einer Prüfung des oder der jeweiligen Gesprächspartner auf Vertrauenswürdigkeit.
- Ausdrücken von Inhalten, die persönliche Relevanz besitzen:
Es entsteht ein Klima, in dem die gegebene Situation (z.B. die Gruppe) akzeptiert wird und man den eigenen Verantwortungsanteil daran begreift. Das bisherige Nichtstattfinden von Katastrophen ermutigt zum Risiko und damit sprechen Personen dann über Dinge, die sie wirklich bewegen. Dabei suchen sie manchmal nach neuen Aspekten und Zusammenhängen in dem, was sie berichten und lassen andere Personen an diesem Prozess teilnehmen.
- Ausdrücken von gerade im Moment vorhandenen Gefühlen:
Hier scheinen die Personen manchmal nach innen zu blicken und es werden aktuelle Befindlichkeiten geäußert. Das betrifft sowohl das Ausdrücken von positiven, wie auch von negativen, meist aber spontanen Gefühlen gegenüber anderen Gruppenmitgliedern (bzw. dem jeweiligen Gesprächspartner).
- Entstehung eines “Heilpotenzials” in der Gruppe:
Gruppenmitglieder beginnen, ein natürliches Potenzial dafür zu entfalten, wie sie betroffenen und leidenden Gruppenmitgliedern helfen und zur Seite stehen können. Dieses Potenzial kann auch als Selbsthilfepotenzial in Erscheinung treten, indem eine einzelne Person den Umgang mit sich selbst in positiver Weise verändert. Das kann sich in Verhaltensweisen zeigen wie “Geduld haben mit sich und Anderen”, “Fühlen oder Mitfühlen ohne zu verdrängen oder flüchten zu müssen”, “Kontakt aufnehmen, ohne daran Bedingungen zu knüpfen” und vieles mehr.


- Akzeptieren der eigenen Person und der Beginn von Veränderungen:
Diese acht Phasen sind als Entwicklungsstadien nicht unbedingt an eine vorgegebene Reihenfolge gebunden, es gibt Sprünge über Phasen hinweg genauso wie auch Rückfälle in Phasen, die man bereits „hinter sich“ hatte. Dennoch lassen sich die acht Phasen vereinfachend als Entwicklungsstadien im Verlauf eines Gruppenprozesses betrachten und in diesem Sinne auch generell auf Prozesse in helfenden Partnerbeziehungen (z.B. Therapeut-Klient) allgemein übertragen.
Wie sollte sich der Coach (Facilitator) verhalten, um eine Gruppe zu leiten (ohne sie zu führen)?
Der oben beschriebene Prozess geschieht jedoch selten von allein. Es ist die Aufgabe des Coachs ihn anzustoßen und zu begleiten, um so die Wirkkraft der Gruppe zu entfesseln. Wie auch beim Einzel-Coaching geht es hier jedoch nicht darum, Lösungen vorzuschreiben oder die nächsten Schritte in der Gruppenentwicklung zu erzwingen. Stattdessen hilft der Coach der Gruppe lediglich, ihr inhärentes Potential zu entdecken und zu entfalten. Folgende „Verhaltensregeln“ für den Coach können dabei helfen, die Balance zwischen hilfreicher Begleitung und übermäßiger Bevormundung zu finden (ebenfalls nach Charles Devonshire 1989, übersetzt von Josef Geider):
- Lass den Fluss fließen: Beobachte aufmerksam alles, was geschieht, und mach Dir Deine Gedanken darüber. Versuche nicht, die Gruppe zu lenken. Vertraue der Gruppe, sie wird ihren Weg finden. Greife nur dann ein, wenn gravierende Probleme auftauchen oder wenn Du um etwas gebeten wirst.


- Lass niemanden allein: Wenn Du das Gefühl hast, dass jemand sich außerhalb der Gruppe befindet, lade ihn ein. Wenn diese Person aber gerade nicht will, lass es gut sein und versuche es später noch mal.
- Hör immer zu: Gerade wenn jemand keinen anderen Ansprechpartner hat, musst wenigstens Du ein Ansprechpartner sein. Steh zur Verfügung oder sag es, wenn Du nicht kannst oder willst.
- Schütze die Schwachen: Greife ein, wenn jemand sehr verletzt zu werden droht. Mildere ab, wenn Du kannst, aber spiele nie den Richter. Das ist nicht Deine Aufgabe. Hilf nicht mit, die Realität von Konflikten zu verschleiern, zu verzerren oder zu unterbinden. Aber niemand kann wiederum Dir verbieten, Mitgefühl zu zeigen.
- Sei Du selbst: Die Gruppe braucht in Dir oft nicht nur den Inhaber einer Rolle, sondern die ganze Person dazu. Das heißt, sei auch bereit, Deine eigenen Probleme in einen Gruppenprozess miteinzubringen, allerdings nur dann, wenn das die Gruppe voranzubringen verspricht. Wenn Du als Facilitator zeitweilig ausfällst, um Dich als Gruppenmitglied verhalten zu können, dann sorge dafür, dass jemand anderes in dieser Zeit Deine Rolle ausfüllt.
- Sei Dir Deiner eigenen Interessen bewusst: Überprüfe Deine Wünsche und Dein Handeln immer wieder daraufhin, ob Du Dich dem Willen der Gruppe oder einzelner Mitglieder gegenüber neutral verhältst. Wenn Du förderst oder blockst, solltest Du gute Gründe dafür haben.
- Sei vorbereitet, aber offen: Wenn man einen Prozess nicht steuern will, muss man auf viele Überraschungen gefasst sein. Versuche, mit genügend Information und Material versorgt zu sein, um den Bedürfnissen der Gruppe entgegenkommen zu können. Wird etwas nicht gewünscht oder benötigt, lass es im Kasten. Die Gruppe wird Dir schon sagen, was sie braucht. Vorschläge machen ist erlaubt, sei Dir aber Deiner Rolle und deren hoher Wertigkeit in den Augen der Gruppe bewusst. Nicht jede Gruppe traut sich gleich, Dir zu widersprechen.
- Erzeuge Klarheit: Deine vielleicht wichtigste Aufgabe ist es, Transparenz über das zu schaffen, was gerade passiert. Unwissenheit und Irrtum bringen in der Regel niemanden weiter. Die Bewertung von Dingen, Personen und Situationen mögen dabei aber sehr unterschiedlich sein. Wenn Du Dich dafür entschieden hast, bestimmte Entscheidungen der Gruppe zu überlassen, dann handle auch danach.
- Sei ein Vorbild: Ob Dir das gefällt oder nicht, die Gruppe wird sich an Dir ein Beispiel nehmen. Handle also immer so, wie Du es vor Dir verantworten kannst und wie es für die Mitglieder der Gruppe hilfreich ist. Zeige vor allem, wie man Verantwortung für sich selbst und anderen Personen gegenüber übernehmen kann, ohne diesen Leuten die Verantwortung für sich selbst abzunehmen.
Die Gruppe als Wirkfaktor in Coaching-Prozessen
Gruppen-Coaching ist in vielerlei Hinsicht komplexer als Einzel-Coaching: Es gilt die Positionen, Meinungen und Probleme mehrerer Gruppenmitglieder gleichzeitig zu verstehen und dabei jede einzelne Person Akzeptanz und Wertschätzung entgegenzubringen. Auch eine Lösung bzw. einen Weg vorwärts zu finden, der allen Gruppenmitgliedern zu Gute kommt und von allen akzeptiert werden kann, ist oft ein schwieriges Unterfangen. Gleichzeitig bietet dieses Format Möglichkeiten, die im Einzel-Coaching so nicht zu finden sind: Eine große Perspektivenvielfalt und eine noch größere Anzahl an Ressourcen, Ideen und Potentialen. Vermag es der Coach geschickt als Facilitator zu agieren, können innerhalb der Gruppe Synergien entstehen und eine gemeinsame Wirkkraft entfacht werden. Die oben beschriebenen Prozesse und Haltung können als Grundlage zur Entwicklung dieser Fähigkeit dienen. Hat der Coach diese Grundlagen erstmal verinnerlicht, kann er auch verschiedene Methoden und Tools auf das Gruppen-Coaching adaptieren und als Hilfsmittel einsetzten. Ein Beispiel dafür, wie dies mit der Tetralemma-Methode funktionieren kann, finden Sie hier.


Literaturhinweise:
Grundlage dieser Ausarbeitung ist ein Artikel aus dem Jahr 1989 von Charles Devonshire, der jedoch durch Devonshires‘ frühen Tod nie erschienen ist. Unser Dozent Dr. Josef Geider hat die deutsche Übersetzung des Textes überarbeitet und dem Zentrum für interdisziplinäres Coaching zur Verfügung gestellt. Hier können Sie diesen Text einsehen.
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Prof. Dr. Jürgen Kriz, Universität Osnabrück