Introvision, eine Tür zu persönlichem Wachstum durch systematische Innenschau verstanden als wohlwollendes Versorgen des inneren verletzten Kindes

Monika Zimmermann - Zimmermann - Tür zu persönlichem Wachstum - Introvision

Professionelle Coaches gönnen sich hin und wieder eine Weiterbildung. Als Mitglied und Lehr-Coach des Deutschen Bundesverbandes Coaching e.V. (DBVC) habe ich mich entsprechend der geltenden Fortbildungs-Leitlinien selbstverständlich verpflichtet, selbstverantwortlich mindestens 120 Stunden Fortbildungsaktivitäten innerhalb von drei Jahren zu absolvieren.

Professionalisierung begreife ich als einen lebenslangen Prozess. Um diesem Standard gerecht zu werden und mein Coaching-Repertoire zu erweitern, habe ich die Weiterbildung “Introvision Coaching für Coaches” in der Dehner-Academy meines geschätzten Kollegen Ulrich Dehner besucht. Darüber möchte ich heute berichten.

Introvision, ein Begriff, der vielleicht nicht sofort vertraut klingt, aber ein kraftvoller Ansatz zur inneren Entdeckungsreise und persönlichen Entwicklung ist. Diese Methode, die auf verschiedenen Grundlagen der Psychologie aufbaut, ermöglicht es Einzelpersonen, ihre innere Welt mit wohlwollender Achtsamkeit zu erkunden und dabei tiefgreifende Veränderungen in ihrem Leben zu bewirken.

“Es ist ein Weg zur Befreiung von inneren Konflikten, innerem Druck, von Stress und Gefühlen der Handlungsunfähigkeit.”

Ulrich Dehner

Doch was genau steckt hinter diesem Konzept, und wie kann es uns dabei helfen, uns selbst besser zu verstehen, zu akzeptieren und alte Muster abzulegen?

“Es kann sein, dass… ich vor einer Gruppe spreche und total abgelehnt werde.“ Mit individuellen Trigger-Sätzen dieser Art “sitzt” der Klient bei Introvision-Einheiten und lässt die Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle kommen und gehen, ohne sie zu bewerten und v.a. mit wohlwollender Wahrnehmung des eigenen inneren Hier und Jetzt.

Was ist das eigentlich Schwierige, das „Alarmierende“ an dieser Situation?

Um den Trigger-Gedanken ihre Kraft zu nehmen, führt man diese Art der konstatierenden weiten Wahrnehmung so lange durch, bis sie ihre alarmierende Wirkung verlieren. Durch diese wertfreie Innenschau gelingt es Klienten, nach einiger Zeit, innere Blockaden zu lösen und in einst schwierigen Situationen gelassen zu bleiben. Sie erleben sich so (wieder) handlungsfähig, was positive Entwicklung wahrscheinlicher macht. 

Im Laufe meiner Weiterbildung bei Ulrich habe ich nach möglichen Anknüpfungspunkten für diese interdisziplinär und schulenübergreifend fundierte Methode gesucht. In meinem Verständnis ähnelt die Introvision in gewisser Weise Carl Rogers’ Konzept des “unconditional regard” gegenüber den Klienten. Es ist ein Perspektivwechsel – der WEK-Ruf (siehe Kolumne) – der uns dazu ermutigt, unsere eigenen Gefühle, Gedanken und unseren Körper ohne Bewertung und Analyse, in Achtsamkeit für das, was gerade ist, zu betrachten. Oder wie meine Mutter manchmal zu sagen pflegte: “Ich betreibe wohlwollende Innenschau.”.

Rogers definiert die 3 therapeutischen Basisvariablen, “die ein wachstumsförderndes Klima schaffen“ (vgl. Rogers 1957, S. 95-103) folgendermaßen:

Bild von einer WEißen Tür. Dieses Foto entstand in den Seminarräumen der dehner academy.

Kongruenz: Je “echter” die helfende Person agiert, sich authentisch zeigt, ohne eine persönliche Fassade oder professionelle Rolle aufzubauen, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Klient/die Klientin (oder die Gruppe) sich in konstruktiver Weise weiterentwickelt.

Anwendung in der Introvision: Je ehrlicher und offener meine Wahrnehmung für alle meine inneren Anteile wird, desto leichter kann ich sie in mein Selbstbild integrieren und mich als “fully functioning person” fühlen.

Bedingungslose positive Zuwendung: Wenn es der Therapeutin / dem Therapeuten gelingt, eine wertschätzende, akzeptierende Haltung gegenüber Allem, was der/die Klient/in zu diesem Zeitpunkt ist einzunehmen, dann ist Bewegung oder Veränderung wahrscheinlicher. Alle Gefühle und Wirklichkeitskonstruktionen der/des Klientin/Klienten werden bedingungslos anerkannt und respektiert, sodass der Klient / die Klientin sich ganzheitlich positiv wahrgenommen fühlen kann.

Anwendung in der Introvision: Akzeptanz und Wertschätzung demgegenüber, was in mir ist, was ich (heute) bin, ist das Herzstück gelingender Introvision. Durch die positive Zuwendung erfahre ich gewissermaßen Unterstützung durch mich selbst.

Empathie: Der dritte hilfreiche Aspekt der Beziehung ist empathisches Verstehen. Das bedeutet, dass die Therapeutin/der Therapeut sehr genau die Gefühle und persönlichen Bedeutungen wahrnimmt, die gerade vom Klienten/von der Klientin erfahren werden und er/sie dieses Verstehen dem Klienten/der Klientin gegenüber zum Ausdruck bringt. Wenn es gut läuft, dann befindet sich der/die Helfer/in so weit in der privaten Welt ihres/seines Gegenübers, dass er/sie über die Bedeutungen, die dem/der Klient/in bewusst sind hinaus auch diejenigen erkennt, die gerade eben unterhalb der Schwelle des Bewusstseins liegen. Diese Art des sensiblen, aktiven Zuhörens wird zunehmend seltener in unserem Leben. Wir glauben, dass wir zuhören, aber sehr selten hören wir wirklich mit echtem Verstehen, wahrer Empathie zu. Zuhören auf diese ganz besondere Art ist eine der wirkungsvollsten Kräfte für Veränderung, die ich kenne.

Anwendung in der Introvision: Ich höre mir selbst aufmerksam und empathisch zu.

Die Introvision integriert meiner Meinung nach diese Prinzipien in eine vielfältig einsetzbare Methode, die es Menschen ermöglicht, ihre innere Welt zu erforschen, in Einklang mit sich selbst zu kommen und wieder handlungsfähig zu werden. Sie bietet eine Möglichkeit, sich selbst mit wohlwollender Achtsamkeit zu begegnen und sich auf den Weg zu persönlichem Wachstum und Selbstakzeptanz zu machen.

Weitere Informationen zu Introvision Coaching finden sich auf der Dehner Academy-Website.

Ab jetzt (siehe mein Zertifikat) integriere ich auch einen kleinen Einblick in diesen Ansatz (inkl. Übung) in meine Coaching-Ausbildung – vielleicht hat ja dann der/die eine Alumni nach der Ausbildung auch Lust, sich darin weiter zu professionalisieren. Introvision integriert meiner Meinung nach diese Prinzipien in eine vielfältig einsetzbare Methode, die es Menschen ermöglicht, ihre innere Welt zu erforschen und in Einklang mit sich selbst zu kommen. Sie bietet eine Möglichkeit, sich selbst mit wohlwollender Achtsamkeit zu begegnen und sich auf den Weg zu persönlichem Wachstum und Selbstakzeptanz zu machen.

Für mich wertvolle Ansätze, die sich auch im Coaching mit Einzelpersonen und Gruppen, insbesondere in beruflichen oder beratenden Kontexten, anwenden lassen.

Introvision – Erfahrungsbericht von Lars Bayer:

 
Schwindel, Übelkeit, Durchfall – es beginnt immer gleich, wenn Kathi kurz vor einer Flugreise steht. Sie leidet, wie jede vierte Person in Deutschland, unter Flugangst! Während der Reise wird es noch schlimmer: der Puls rast, das Gesicht ist kreidebleich – die Angst steht ihr ins Gesicht geschrieben. In der Regel fließen auch Tränen und bei Turbulenzen krallt sie sich nur noch panisch am Sitz fest. Unnötig zu sagen, dass diese Angst nicht nur für Kathi, sondern auch für die Mitreisenden zu einer großen Herausforderung wird. “Ich versuche Flüge zu vermeiden, wo es geht!” sagt Kathi. “Aber manchmal lässt es sich eben nicht vermeiden. Ich möchte mit meinem Mann ja auch gerne in den Urlaub fliegen. Die Flugangst schränkt uns da schon sehr ein und hat einen großen Einfluss auf unsere Lebensqualität! Ich habe schon mehrere Dinge versucht, von Meditation zu Atemübungen. Aber es hat nichts geholfen.”
 

Ich kenne Kathi gut und habe sie auf einer Flugreise begleitet. Ich war also Zeuge der oben beschriebenen Symptome. Und spätestens, als ich während einer kleinen Turbulenz ihre Fingernägel in meinem Oberschenkel spürte, war mir klar: das kann so nicht weitergehen! Als wir wieder sicher zurück waren, haben wir uns zu einer Introvision-Coaching Sitzung verabredet. Ich erzählte ihr von der Methode und erklärte ihr die Hintergründe dazu. Da ein erfolgsentscheidendes Element der Introvision die “weite Wahrnehmung” ist, führten wir diverse Übungen dazu durch, um sicherzustellen, dass sie diese Haltung entspannt und konzentriert einnehmen konnte. Anschließend machten wir uns auf die Suche nach den Auslösern ihrer Angst – ihren so genannten “Imperativen”. Also die Art von tief verankerten Glaubenssätzen, die ihr sagen, dass es etwas auf gar keinen Fall passieren darf bzw. dass etwas unbedingt passieren muss! Es ist selten die vordergründige Angst vorm Fliegen an sich, sondern liegt eine oder mehrere Ebenen tiefer. In Kathis Fall war es die Angst, Entscheidungen zu treffen und in Folge einer Fehlentscheidung dann Menschen oder Dinge zu verlieren, die ihr viel bedeuten. Ich bat sie während der Problemdiagnose einmal den Satz zu sagen: “Es kann sein, dass ich Entscheidungen treffe und dadurch Dinge verliere, die mir die Welt bedeuten”. Sie konnte den Satz nicht aussprechen! Ich fragte sie, was sie daran hindert, den Satz auszusprechen. Sie antwortete, dass sie sich unwohl bei dem Gedanken fühlt. Es schnürt ihr die Kehle zu. Mir war klar, dass wir mit diesem Satz arbeiten sollten.

Wir begannen also mit der weiten Wahrnehmung. Ich führte ihre Aufmerksamkeit von ihrem Körpergefühl über ihre Emotionen bis hin zu ihren Gedanken. Sie sollte letztendlich alle drei Ebenen gleichermaßen wahrnehmen und wertungsfrei beobachten. Als sie diesen Zustand erreicht hat, sagte ich den oben genannten Satz. Ihr Atem wurde schneller und ich sah, dass sich ihre (geschlossenen) Augen schnell bewegten. Sie fing an zu weinen. Ich habe sie immer wieder angeleitet und in die weite Wahrnehmung zurückgeführt, dass sie alles, was kommt zulassen und wertungsfrei beobachten konnte. Nach ca. 7 Minuten beendeten wir die erste Sitzung. Sie wischte sich die Tränen vom Gesicht und war sichtlich angestrengt. Sie bewertete den ausgelösten Alarm mit 8 von 10 – also subjektiv empfunden schon sehr stark. Sie berichtete von vielen Bildern, Gedanken, Emotionen und körperlichen Reaktionen, die während der Sitzung bei ihr ausgelöst wurden. Wir führten noch eine weitere Sitzung durch. Das Erlebnis war ähnlich, allerdings hatte ich den Eindruck, dass die Reaktion auf den Alarm nicht mehr ganz so heftig war, wie bei der ersten Runde. Eine Bewertung mit 5 von 10 bestätigte mir diesen Eindruck. Der Alarm war also bereits um 3 Punkte zurückgegangen. Ich gab ihr die Hausaufgabe, die Introvision zu Hause jeden Tag selbst durchzuführen, bis der Alarm komplett bei null angekommen ist. Hierzu haben wir beide Sitzungen aufgezeichnet. Ich bat sie, mir nach den Sitzungen jeweils ein kurzes Feedback zu geben. Bereits nach dem ersten selbstständigen Durchführen war die Bewertung bei 3 von 10. Bei null war sie dann am dritten Tag angekommen. Sie beschrieb die Erfahrung bei der dritten Sitzung in einem positiven Sinne als “langweilig” und “unspektakulär”. Es sei ihr einfach egal gewesen. Super – genau da wollten wir hin! Sie führte die Sitzungen noch drei weitere Tage zu Hause durch – die Bewertung lag weiterhin durchgehend bei null! Zum Abschluss trafen wir uns eine Woche nach der ersten Sitzung nochmal gemeinsam zur Durchsprache der Erfahrungen und zu einer letzten gemeinsamen Sitzung. Auch hier lag die Bewertung wieder bei null.

Zwei Wochen nach dem Abschlussgespräch und der letzten gemeinsamen Sitzung stand die nächste Flugreise an – auch hier durfte ich wieder live dabei sein. Ich war mindestens so gespannt wie Kathi! Bereits im Vorfeld des Flugs war eine deutliche Veränderung spürbar – kein Schwindel, keine Übelkeit, kein Durchfall. Jetzt schon ein mega Erfolg! Boarding startet, wir setzen uns auf die Plätze, das Flugzeug rollt los. Kathi ist etwas nervös, aber bei weitem nicht panisch. Das Flugzeug startet und hebt ab. Ich beobachte Kathi so subtil es mir möglich ist – ich bin begeistert von ihrer neu gewonnenen Gelassenheit und kann es tatsächlich selbst kaum glauben! Getoppt wird der Flug noch damit, dass Kathi ganz entspannt einschläft. Und das beste von allem: ich war live dabei! Ich durfte selbst Teil dieses “Vorher-Nachher-Experiments” werden. Und ich freue mich sehr, dass Kathi nun ein ganz neues Lebensgefühl erfährt!

In der Zwischenzeit folgten noch einige weitere positiven Rückmeldungen von Flugreisen, die die Wirksamkeit der Introvision klar belegen. Und eine Rückmeldung begeisterte mich zusätzlich: Kathi hatte vor einiger Zeit einen Reitunfall. Seitdem fiel es ihr schwer, wieder aufs Pferd zu steigen. Sie berichtet, dass es ihr seit der Introvision auch wieder entspannt möglich ist, mit dem Pferd auszureiten. Wir hatten diese Angst in der Introvision nicht explizit betrachtet, dennoch lag hier offenbar der selbe Imperativ zugrunde, weshalb wir dann glücklicherweise zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen konnten!

Literaturangaben
– dehner academy, Glossar: Was ist Introvision Coaching?
– Rogers, C. (1957). The necessary and sufficient conditions of therapeutic personality change. J. Consult. Psychol. (reprint)

Prof. Dr. Monika Zimmermann
Zentrum für interdisziplinäres Coaching, Senior-/Lehr-Coach (DBVC und EDPRO
IOBC), Systemische Beraterin/Therapeutin (IGST), Professorin an der iba-University
of Cooperative Education für Sozialpädagogik, Management und Coaching, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Oskar-Patzelt-Stiftung

Prof. Dr. Monika Zimmermann