Disziplinen und Schulen

Perspektivenwechsel: Der hypnosystemische Ansatz

Ein Gespräch mit Dr. Gunther Schmidt

Herausgeberband von Prof. Zimmermann „Coaching – zum Wachstum inspirieren“
Herausgeberband von Prof. Zimmermann „Coaching – zum Wachstum inspirieren“

Im Sinne der Interdisziplinarität und des Schulen übergreifenden Denkens sind Vorträge von erfahrenen Experten verschiedener Disziplinen und die damit verbundenen Perspektivenwechsel ein zentraler Bestandteil der Coaching-Ausbildung an unserem Zentrum für interdisziplinäres Coaching. Hierzu zählt auch der Gastvortrag von Dr. Gunther Schmidt zu dem von ihm entwickelten hypnosystemischen Ansatz.

Dr. Gunther Schmidt ist übrigens auch als Mitautor vertreten in dem demnächst erscheinenden Herausgeberband von Prof. Zimmermann „Coaching – zum Wachstum inspirieren“ und liefert dort ebenfalls einen bedeutsamen Beitrag zur Multiperspektivität als Kompetenz im Coaching.

Gunther Schmidt, eine der großen Ikonen in der therapeutischen und Coaching-Welt und ein wunderbarer, charmant-lockerer Erzähler, hat uns in einem Online-Gespräch die Entwicklung und Kerngedanken seines hypnosystemischen Ansatzes erläutert. Dem Modell liegt eine konstruktivistische Annahme zugrunde, die besagt: Jede (Problem-) Realität wird im Menschen in einer autonomen und unwillkürlichen Selbstregulation konstruiert und kann verändert werden.

Man versteht den Ansatz und seine Einordnung als Meta-Modell für die Coaching-Praxis mit seinen verschiedenen Charakteristika am besten, indem man der Biografie von Gunther Schmidt folgt. Er läßt uns an seinem spannenden wissenschaftlichen Erkenntnisweg teilhaben:

Während seines Studiums der Volkswirtschaftslehre hat Gunther Schmidt mit großem Interesse das Thema Familientherapie verfolgt und entschieden, zusätzlich ein Medizinstudium in Heidelberg zu absolvieren. Dort bekam er die Chance, mit Helm Stierlin zusammenzuarbeiten, dem Pionier der europäischen und weltweiten Entwicklung der Familientherapie. Dieser ist ihm väterlicher Freund und Förderer geworden. Von der ersten Stunde an konnte er mit ihm an der Entwicklung der Familientherapie in Deutschland mitarbeiten und die Heidelberger Schule mitbegründen. Ab Ende der 70er Jahre wurde auch der Kontakt zur Mailänder Gruppe intensiv ausgebaut und neben anderen wichtigen Vertretern des systemischen Ansatzes auch mit deren Unterstützer Paul Watzlawick intensiv Kontakt gepflegt.

Verschiedene Disziplinen und Schulen (Perspektiven) können unter einem Dach (Coaching-Ausbildung) existieren, sich komplementär ergänzen, gegenseitig bereichern und in individuelle, authentische Coaching-Konzepte münden.

Disziplinen und Schulen
Disziplinen und Schulen

Neben Tiefenpsychologie, diversen familientherapeutischen und systemischen Ausbildungen wie auch der Transaktionsanalyse, Gestalttherapie und Körpertherapie begann er 1979 auch mit einem vertieften Studium der Hypnotherapie bei Milton H. Erickson.

Ihm wurde klar, „dass die wesentlichsten Interventionen der systemischen Arbeit, die sich bis heute nicht wesentlich geändert haben, alle aus der Erickson’schen Hypnotherapie kamen“.

Durch diese Erkenntnis bekam er ein völlig neues Verständnis für die systemische Arbeit, auf deren Grundlagen und denen der Hypnotherapie er später den hypnosystemischen Ansatz entwickelte und um die Integration weiterer für ihn sinnvoller Konzepte ergänzte. Dazu gehören bis heute u.a. die des Psychodrama, der provokativen Therapie und der Embodiment-Forschung.

Die Systemische Therapie und die Hypnotherapie gehen von ähnlichen Prämissen aus und haben ein gleiches Verständnis von Veränderung, daher bildeten sie eine perfekte zueinander passende Basis. Übrigens hatte Erickson laut Gunter Schmidt massiven Einfluss auf fast alle heute noch gängigen Lösungs- und Ressourcen-orientierten Ansätze, von der Wunderfrage aus der Pseudoorientierung in der Zeit über den lösungsorientierten Ansatz von de Shazer bis hin zu heutigen New Work- und Teamentwicklungs-Konzepten wurden überall Grundlagen und Ideen von Erickson zugrunde gelegt.

Dr. Gunther Schmidt und Prof. Dr. Monika Zimmermann mit den Teilnehmer*innen
Dr. Gunther Schmidt mit den Teilnehmer*innen

Die Veränderung

Die wichtigste Grundannahme des systemischen Ansatzes besteht darin, dass der Mensch immer in Wechselwirkung mit seinem Umfeld zu sehen ist und sein individuelles Erleben nur im jeweiligen Situationskontext stattfindet. Es geht also niemals um lineare Kausalität, sondern immer um zirkuläre Wechselwirkung in der Gegenwart, in Systemen und dem Denken in Mustern und Vernetzungen.

Die Theorie der Veränderung liegt darin, Unterschiede einzubringen. Das Verstehen eines Problems ist nicht Schlüssel oder Hauptprinzip für Veränderung. Sondern Veränderung entsteht dadurch, dass man in gerade dominierende Netzwerke oder Muster Unterschiede einführt. Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, Problem-Prozesse zu übersetzen und zu nutzen als wertvolle Informationen über wichtige Bedürfnisse.  Das kann zum Beispiel bedeuten, etwas anders zu tun als bisher, oder auch, etwas anders zu bewerten als bisher. Damit entsteht ein anderes Erleben, eine andere Organisation, eine andere, neue Wechselwirkung im System und dadurch ein erwünschteres Ergebnis.

Lange ging man zu Beginn ihrer Entwicklung in der systemischen Arbeit davon aus, dass man sich gar nicht sehr mit den individuellen Prozessen der Beteiligten in einem System beschäftigen müsse, da es genüge, die Interaktionsmuster zwischen ihnen zu verändern. Da es auch mit dieser Annahme gute Ergebnisse gab, diese Komplexitäts-reduzierende Annahme zu bezweifeln.

Dr. Gunther Schmidt in der Ausbildung beim Zentrum Teil 1
Dr. Gunther Schmidt

Die Offenbarung

Der internationale Austausch war schon in dieser Zeit sehr rege. Fachspezialisten auch aus anderen Disziplinen wurden in die Diskussionen der Therapiearbeit einbezogen und stellten ihre Ergebnisse untereinander vor. So auch Vertreter der Hirnforschung, die zwischenzeitlich massive Erkenntnisfortschritte nachweisen konnten. Der Hirnforscher Humberto Maturana brachte Gunter Schmidt um einen entscheidenden Gedanken bei der Entwicklung des hypnosystemischen Ansatzes weiter:

Zunächst nur aus Spaß sagte er zum ihm in der Kaffeepause einer Fachtagung, seine Ergebnisse machten „das ganze Konstrukt kaputt“, weil die Hirnforschung nun absolut klar belegen konnte, dass ein „interfraktionelles Wechselwirkungsmuster kein Individuum dazu zwingt, irgendetwas zu verändern“, sondern das persönliche Erleben ausschließlich von innen heraus autonom erzeugt wird. Systeme, die sich durch Selbstorganisation selbst erschaffen und unter den wechselnden Beziehungen zur Umwelt voll funktionsfähig erhalten, genannt Autopoiese oder Selbsterzeugung, das ist seither zweifelsfrei nachgewiesen.

Gunter Schmidt hatte seine „Offenbarung“. Dies stellte nämlich eine neue Grundlage für die Befassung mit individuellen Prozessen dar und die Erickson’schen Konzepte boten dazu eine Vielfalt von Möglichkeiten. So integrierte er den hypnotherapeutischen Ansatz in den systemischen, denn ein wichtiger Aspekt in der systemischen Arbeit kommt seiner Meinung nach zu kurz: sie arbeitet stark kognitions-orientiert.

Dies ist einerseits vollkommen richtig und wichtig, erscheint Gunther Schmidt jedoch nicht ausreichend. Denn menschliches Erleben hat mindestens zwei Teilbereiche, die es zu berücksichtigen gilt: den bewusst willentlichen Bereich und die unwillkürlichen Prozesse, die den allergrößten Teil des menschlichen Erlebens ausmachen, insbesondere beim Problem-Erleben. Unwillkürlich heißt, es ist dem willentlichen Zugriff nicht direkt zugänglich. Etwas bewusst verändern zu wollen funktioniert nicht einfach deshalb, weil man es möchte. Unwillkürliche Prozesse sind das Ergebnis unserer „Gehirnorganisation“ und ohne Ausnahme immer schneller und stärker als alle willentlichen und kognitiven.

Ein Feld, das noch viele Entwicklungschancen bietet, insbesondere im Coaching. Auch die erfahrensten Führungskräfte wissen kognitiv, wie sie eigentlich agieren wollen, einzig hakt es bei der Umsetzung. Der springende Punkt bei einem sogenannten „Problem“ ist das Wollen auf der bewusst willentlichen Ebene, kombiniert mit der aus einem unbekannten Grund fehlenden Umsetzungsmöglichkeit.

„Also benötigen wir systematische Konzepte, die ein großes Know-how dafür anbieten, wie man unwillkürliche Prozesse systematisch und zieldienlich beeinflussen kann. Und vor allen Dingen, wie man eine optimale Kooperation zwischen willentlich Bewusstem und Unwillkürlichem herbeiführen kann, darüber hinaus mit Kontextbezug nach außen. Das ist der Kern des hypnosystemischen Ansatzes.“

Das Episodengedächtnis und die vielen „Ichs“

Die wichtigste Grundannahme für eine hilfreiche Lösungsentwicklung: Die Grund-Kompetenzen für sie sind schon im unbewussten Erlebnisspeicher der Klienten vorhanden. Dieses Wissen ist im Moment des „Problems“ zwar nicht bewusst zugänglich, dies stellt jedoch kein grundlegendes Defizit des Menschen dar. Es geht also darum, wieder Kontakt zu dem schlummernden Potenzialwissen zu bekommen und bei dieser Reaktivierung zu unterstützen. Dies in den jeweiligen Kontexten zu bringen und zu nutzen sei die Hauptaufgabe im Coaching. „Da entsteht gar nicht so viel Neues von außen, und das Neue von außen kommt eher dadurch, dass man Leute unterstützt, dass schon schlummernde Potenziale vernetzt werden mit dem, was sie brauchen.“

Dass wir in Episoden denken, hat die heutige Forschung bewiesen. Die Reduzierung auf die Kindheit ist Gunter Schmidt in vielen therapeutischen Sitzungen dabei nicht ausreichend, denn Episoden haben wir nicht nur in unserer Kindheit erlebt, sondern auch in der Jugend, im Erwachsenenleben, unser ganzes Leben lang und überall. Episoden größten Glücksgefühls bis zu tiefster Verzweiflung.

„Wir sind gleichzeitig eine mutige Variante und eine mit totaler Ängstlichkeit, eine wütende, kraftvolle, schwache, also alles von A bis Z. Sämtliche Episoden unseres Lebens, das zeigt die autobiografische Gedächtnisforschung, jede Episode, auch wenn sie nur ein bisschen emotional geladen ist, wird in uns gespeichert als Erlebnismöglichkeit, die wieder hochschießen kann. Und wenn das der Fall ist, dann habe ich auch nicht nur eine Kindheit oder eine Jugend. Dann habe ich Tausende von Erlebnispotenzialen, also Kindheiten usw. Diese wieder zugänglich zu machen, führt zu einer weiteren wichtigen Prämisse: dem Aufmerksamkeitsfokus.”

Auf eine Nachfrage zum Episodengedächtnis in der späteren Diskussion, ob das Repertoire an Erlebnissen ausschliesslich aus realen Erlebnissen besteht oder auch Erträumtes, Assoziationen oder ähnliches beinhalten kann, ist für Schmidt eine theoretisch und praktisch wichtige und interessante Frage, die auch in der therapeutischen Praxis hohe Relevanz hat. Denn auch zunächst nur Imaginiertes, also bisher noch nicht tatsächlich irgendwann Erlebtes, kann als hilfreiches Erlebnisnetzwerk wirken. Wenn man solche Prozesse gezielt vernetzt mit den Kontexten, in denen man sie als Kompetenz für Lösungen braucht, haben sie ähnlich gute Wirkung wie die Vernetzung mit tatsächlich real Erlebtem.

In allen Fällen zähle das Hebb´sche Gesetz: „Cells that fire together wire together“. Der Schlüssel liegt nicht in Ursache und Wirkung, sondern in Vernetzung und Wechselwirkung. Problem-Erleben kommt nicht zustande, indem man in einem Moment etwas erlebt, sondern, wie die dazu gehörige Bewertung vorgenommen wird. Unwillkürliche Prozesse können aus dem Episodengedächtnis heraus blitzschnell entstehen. Ein einzelner Reiz reicht aus, um das Netzwerk der Erfahrung und dazu gehörenden Bewertung hochzufahren.

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So erläutert Schmidt das Beispiel eines Freundes, der dachte, er „ticke nicht mehr richtig“, weil er in einem Chor-Konzert seiner Tochter bei einem bestimmten Lied hemmungs- und scheinbar grundlos weinen musste. Erst später klärte sich auf, dass er sich nicht mehr daran erinnerte, bereits früher dasselbe Lied auf der Beerdigung seines Vaters gehört zu haben. Das ursprüngliche Erlebte war ihm nicht mehr bewusst zugänglich, es handelte sich um eine unwillkürliche emotionale Reaktion. Der Körper hat alles „richtig“ abgerufen, der Mann konnte sich seine eigene Reaktion jedoch nicht selbst erklären.

Als Problem werden solche Prozesse dann deshalb bewertet und erlebt, weil das bewusste Denken sich auf den eben bewusst zugänglichen Kontext bezieht (in diesem Beispiel auf das Konzert) und nicht versteht, dass die unwillkürliche Reaktion sich aber auf einen anderen Kontext (hier Begräbnis) bezieht und insofern adäquat für diesen Kontext ist. Dann bewertet das bewusste Denken meist das nicht verstandene Unwillkürliche als Defizit, Unfähigkeit, Störung, nicht selten sogar als krank. Das Erleben als Problem entsteht also mehr durch diese Bewertung, nicht durch das unwillkürliche Auftreten an sich.

Priming, Netzwerk-Organisation, Lösungswissen

Das durch die Forschung ebenfalls gut belegte Priming beschreibt dieses unwillkürliche Erleben. Je nach Ausrichtung werden unterschiedliche Prozesse aus dem inneren Erlebenspotenzial mit den bereits beschriebenen Tausenden von Erlebnismöglichkeiten (Netzwerk-Organisationen) aktiviert.

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„Niemand ist so oder so oder so, auch wenn er sich das 20 mal so ausdenkt, wird man je nach Kontext und je nach Einladungsreizen mal zu einem mutigeren oder schwächeren, ärgerlicheren, freundlicheren, verspannteren, lockereren, aktiveren, zurückhaltenderen Menschen und jedes Mal sagen wir „Ich“ dazu. Das sind aber völlig unterschiedliche „Ichs“. Das ist mit hypnosystemischen Methoden sehr präzise nachprüfbar, vor allem, wenn medizinische Aspekte zusätzlich berücksichtigt werden. Da ist man natürlich ein völlig anderes „Ich“, wenn man zum Beispiel wütend ist, mit anderen Hormonregulationen, mit anderem Blutdruck, mit anderem Herzschlag. Andere Gedanken, auch mit anderen Erinnerungen und mit anderen Zukunftsfantasien und Verhaltensimpulsen, als wenn ich gerade ein ängstliches „Ich“ oder ein ganz lockeres „Ich“ habe, und so weiter. Aber immer machen wir nachher so eine Art Rühreierkuchen. Indem wir immer zu allem gleich „Ich“ sagen, das ist ein krasses Missverständnis und unsere Vielschichtigkeit wird damit nicht erfasst.“

Durch Priming werden unbewusste Gedächtnisprozesse aktiviert, die die bewusste Wahrnehmung und das Verhalten mitbestimmen. Alles Erleben wird durch die jeweilige Organisationsstruktur der Netzwerke und dieser Aktivierungsprozesse erzeugt. Die unbewußte Fokussierung der Aufmerksamkeit kann erwünschte und auch unerwünschte Erlebniszustände auslösen. Dementsprechend sollten wir uns auf gar keinen Fall nur mit dem Problemerleben beschäftigen, denn das Lösungserleben muss ebenfalls schon vorhanden sein.

„Wer ein Problem erlebt oder ein Symptom, ob er will oder nicht, und auch wenn er selbst das nicht so sieht, trägt auch das Lösungswissen in sich.“

Ein Problem ist eine Konstruktion. Man hat kein Problem, sondern man erzeugt es auf unwillkürlicher Ebene, und zwar dadurch, dass eine Ist-Soll Diskrepanz gebildet und bewusst bemerkt wird, dass das Unwillkürliche in die ungewünschte Richtung geht, also nicht dem angestrebten Sollwert entspricht.

Der Mensch muss wissen, was er eigentlich will, sonst kann er gar nicht wissen, dass er ein Problem hat. Das dazugehörige Lösungswissen ist dabei oft zunächst nicht zugänglich, aber im schlummernden unwillkürlichen Potential sehr wohl vorhanden. Das kann wieder angezapft werden, gerade mit den Konzepten von Erickson ist das sehr gut möglich.

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An dieser Stelle sei auch angemerkt, dass in der Erickson´schen Hypnotherapie und noch konsequenter in der hypnosystemischen Arbeit nicht nur mit Trance gearbeitet wird und dies nur eine von vielen Varianten der Erickson’schen Arbeit ist. Viel wichtiger ist, dass es bei ihm eigentlich um etwas viel umfassenderes geht, nämlich um die systematische Arbeit mit unwillkürlichen Prozessen durch Handlungen, Geschichten, Bewegung, Metaphern, Symbole und andere unterschiedlichste Möglichkeiten, auch ganz einfach durch Fragen.

Ausgehend also von der Annahme, dass Erleben durch Aufmerksamkeitsfokussierung erzeugt wird und die Lösungs-Kompetenzen im Menschen bereits vorhanden sind, können nun unterschiedliche Schlussfolgerungen aus der Erickson’schen Arbeit gezogen werden. Steve de Shazer konzentriert sich beispielsweise in seinem lösungsorientierten Ansatz zu 100% auf die Lösung. Schmidt merkt an, dass es zwar unterschiedliche kulturelle Hintergründe gibt, beispielsweise in Nordamerika, wo dies funktionieren kann (aber auch dort keineswegs immer), in Europa und in anderen Teilen der Welt seiner Erfahrung nach meistens nicht. Für ihn ist es vor allem wichtig, den Klienten achtungsvoll in seinem Weltmodell zu begegnen. Das bedeutet auch, seine Erwartung und sein Bedürfnis, über das Problem gegebenenfalls auch ganz ausführlich zu sprechen, zu respektieren, als äußerst relevanten Teil einer guten Kooperation zwischen Coach und Coachee.

Außerdem kann man mit hypnosystemischen Methoden sogar eine besondere Chance der Lösungs-Förderung aus der Beschäftigung mit Problemerleben machen. Denn dieses wird ja auch von innen heraus unwillkürkllich selbst (autopoietisch) konstruiert. Mit den hypnosystemischen Netzwerk-Modellen kann sehr detailliert erfasst werden, wie ein Problemerleben (bisher meist unbewusst) konstruiert wird. Genau daraus wieder können viele Strategien abgeleitet werden, wo und wie man diese Problem-Netzwerke durch gezieltes Einführen von Unterschieden in Lösungs-Netzwerke transformieren kann.

Dr. Gunther Schmidt in der Ausbildung beim Zentrum Teil 2
Dr. Gunther Schmidt in der Ausbildung am Zentrum

Problem in Distanz

Wenn der Klient sein Problem erzählt und sich dadurch erneut in dasselbe Erleben hineinbegibt, manifestiert es sich aus der Sicht von Gunther Schmidt jedoch auch immer wieder neu. Nicht die Ursachenforschung ist sein therapeutisches Ziel, sondern die Unterbrechung des Problem-Netzwerks. „Es ist niemals der Inhalt eines Phänomens selbst, was die Wirkung ausmacht, sondern immer die Beziehung des autonomen Beobachters zum Inhalt.“

Am Beispiel Burnout macht er anschaulich, dass die Ursache von außen (schlechte Arbeitsbedingungen) beim Klienten vermeintlich eine Wirkung verursachen. Das ist ernst zu nehmen, kann aber so nicht stimmen, denn die Hirnforschung zeigt ganz klar, dass Erleben von innen heraus erzeugt wird. So gesehen ist also der Außenkontext eine (allerdings sehr ernst zu nehmende) Einladung und kein Zwang. Es gilt somit herauszufinden, was zu dieser inneren Verarbeitung, in diesem Beispiel der Erschöpfung, eigentlich beiträgt und durch die Analyse das Problem-Erleben in ein Lösungspotential umzuwandeln.

Nach der Problem-Erfassung gilt es vom Klienten zu erfahren, wie das gewünschte Ergebnis aussehen würde, welchen Zielzustand er sich also wünscht (an dieser Stelle wieder ganz ähnlich dem lösungsorientierten Ansatz von de Shazer). Häufig kommt dabei zutage, dass der Klient seine eigenen Ziele nicht selbstwirksam erreichen kann, und ihn somit das Zielkonstrukt inkompetent macht. Dann müssen die Ziele „nachverhandelt“ werden, um den Klienten wieder in sein Kompetenz-Erleben zu bringen und ihn Schritt für Schritt weiter darauf aufbauen lassen, um in die Selbstwirksamkeit zurückzukommen.

Ein Klient in einer schlimmen Situation kann nur über Empathie, Verständnis und Vertrauensaufbau des Coaches abgeholt werden. Über Metakommunikation kann der Coach dazu einladen, sich nicht weiter in die Situation und das „ausgelieferte, ohnmächtige Opfer-Ich hineinzureden“, sondern eine andere Beobachterposition einzunehmen, um das eigene Erleben umbauen zu können. Durch Distanzregulierung kann der Klient über sein Problem anders sprechen, eventuell auch als Beobachter seiner selbst. Ähnlich wie ein Kinobesucher eine Geschichte auf der Leinwand sieht, kann alles Erlebte ganz genau und detailliert wiedergegeben werden, der Inhalt der Erzählung ist der gleiche, Nähe und Distanz jedoch neu reguliert. Die differenzierte Perspektive und Wahrnehmung der Situation kann Belastendes auf externalisierten Abstand bringen, um dann aus einer anderen schon vorhanden Ressourcenhaltung, die man nicht lernen muss und die reaktivierbar ist, anders, meist ruhiger und objektiver über das Problem und die dazugehörige Lösung sprechen zu können.

Vorgehensweise im hypnosystemischen Coaching

Abschließend erläutert Gunther Schmidt uns aus diesen zusammengefassten Komponenten das grundsätzliche Vorgehen im hypno-systemischen hypnosystemischen Coaching. Wichtigste Grundlage zu Beginn ist es, mindestens zwei Systeme im Blick zu behalten: das System des Klienten und das System, in dem der Coach Teil ist. Zusätzlich könnten auch unsichtbare Dritte eine wichtige Rolle spielen. Es ist also zu klären, wie die Idee für die Beratung zustande kam, wer sie hatte (z.B. der Vorgesetzte, der Partner, der Coachee selbst?), was der Coachee darüber denkt, wie dessen Erwartungen sind, etc. Möglicherweise ist es eine auf Druck entstandene Situation, dies wäre für den Coach eine relevante Information, die es in der gemeinsamen Arbeit zu berücksichtigen gilt.

In der Auftragsklärung wird der Sinn der Zusammenarbeit nicht aus der Vergangenheit oder der Gegenwart, sondern immer und ausschließlich aus der angestrebten Zukunft abgeleitet, also dem gewünschten Ergebnis. Mit dem Wissen, dass ein Problem durch die Art der Erlebens-Konstruktion erzeugt wird, ist nun also die Zielkonstruktion relevant. Es ist nur möglich, sich kompetent zu verhalten, wenn die Ziele selbstwirksam erreicht werden können. Daher ist es möglicherweise sinnvoll, zusätzlich zu den Zielen des Klienten, die unbedingt respektiert werden müssen, auch wenn sie (noch) nicht selbstwirksam erreichbar sind, eventuell zusätzliche „zweitbeste“ Ziele zu entwickeln, bei denen das möglich ist.

Die Klienten werden immer völlig transparent in jeden Schritt einbezogen und durch viel „Produktinformation“, wie Schmidt es nennt, erläutert der Coach genau, wie er mit ihm arbeiten wird. Diese Metakommunikation sieht Schmidt quasi als Weiterbildung für die Klienten an, denn unter der Prämisse, dass die Lösung in jedem Menschen selbst steckt, ist genau genommen der Klient sein eigener Coach und der Coach dessen Co-Berater. So kann ein kompetenzfokussierter Dialog auf Augenhöhe stattfinden und die Arbeit nachhaltig positiv wirken, auch deshalb, weil so die KlientInnen klare Informationen darüber erhalten, wie sie selbst, also auch ohne Coach, zieldienlich für ein gewünschtes Erleben intervenieren können.

Um das „schlummernde Potential“ aus dem Episodengedächtnis zu wecken kann nun auf Unterschiede fokussiert werden. Kompetenzen für hilfreiche Lösungen sind vorhanden, davon gehen wir aus, der Fokus wird nun vom Problem auf das Muster des Gelingens gelenkt und erörtert, welche Situation aus dem eigenen Erfahrungsrepertoire bereits ein Lösungsbeispiel gezeigt hat.

In der hypno-systemischen hypnosystemischen Arbeit geht es nie darum, etwas zu eliminieren, wie zum Beispiel Angst. Es geht immer nur darum, die Wahlmöglichkeiten zu erweitern, indem die geschilderten Symptome oder Probleme übersetzt und als Botschafter von Bedürfnissen genutzt werden. Das Konzept der Utilisation, des Nutzbarmachens besagt: Was immer auftaucht, wird nutzbar gemacht für die angestrebten Ziele. Die Selbstorganisationsprozesse der Coachees werden aktiviert und Probleme werden zu Aufgaben, die bewältigbar sind.

Dr. Gunther Schmidt in der Ausbildung beim Zentrum
Dr. Gunther Schmidt in der Ausbildung beim Zentrum

Vielen Dank, lieber Gunther Schmidt für diese kurzweilige, dennoch tiefgehende und äußerst sympathische Einführung in Ihre persönliche Geschichte und Entwicklung dieses bedeutenden Ansatzes!

Dr. Gunther Schmidt

Gunther Schmidt ist Mitgründer des Heidelberger Weiterbildungsinstituts Internationale Gesellschaft für Systemische Therapie (IGST) und des Helm Stierlin Instituts, außerdem langjähriges Vorstandsmitglied der Milton Erickson Gesellschaft für Klinische Hypnose (MEG) und Leiter des Milton-Erickson-Instituts in Heidelberg. Seit 2007 ist er ärztlicher Direktor der Privatklinik für Psychosomatik und Psychotherapie im sysTelios Gesundheitszentrum Siedelsbrunn, das er ebenfalls mitbegründet hat. Sein Einfluss erstreckt sich über die klinische Praxis hinaus, da er als Coach und Berater in der Organisations- und Teamentwicklung sowie als Dozent und Autor zahlreicher Publikationen tätig ist.

Wer tiefer ins den hypnosystemischen Ansatz eintauchen möchte empfiehlt er das Online-Weiterbildungsportal life lessons, in dem mit ihm Kurse aufgezeichnet wurden und natürlich seine Bücher und Aufsätze, allen voran die „Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung, Carl Auer Verlag 2022 und die  „Liebesaffären zwischen Problem und Lösung“, Carl Auer Verlag 2023 oder „Gut beraten in der Krise“, erschienen bei managerSeminare Verlags GmbH.

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