Die Introvision, die Amygdala und der Imperativ
Unsere Reihe spannender Speaker im Rahmen der Ausbildungsmodule setzten wir kürzlich mit Ulrich Dehner fort. Er hat sich auf Introvision spezialisiert, ein auf Neurophysiologie und Neuropsychologie basierender Coaching-Ansatz, der besonders den zentralen Gehirn-Akteur Amygdala fokussiert. Auch sein Einblick ergänzt perfekt die Perspektivenvielfalt, für die wir in unserer Profession und Ausbildungsgestaltung überzeugt einstehen. Ausbildungsleiterin Monika Zimmermann schätzt Ulrich Dehner als DBVC-Kollegen sehr, hat selbst eine Weiterbildung für Coaches bei ihm absolviert und sieht in der Introvision eine weitere Tür zu persönlichem Wachstum (lesen Sie hier ihre Kolumne dazu).
Was also ist Introvision und was hat die Amygdala damit zu tun?
Die Amygdala ist eine Struktur in unserem Gehirn, die eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung von Emotionen, insbesondere von Angst und Stress, spielt. In stressigen Situationen initiiert sie die Ausschüttung von Hormonen, um den Körper auf eine “Kampf-oder-Flucht”-Reaktion vorzubereiten und ist damit maßgeblich an der Auslösung von Alarmzuständen beteiligt. Solche Alarmzustände bringen uns dazu, unter Stress Höchstleistungen zu erbringen. Durch belastende Erfahrungen, Traumata oder negative Situationen können sich Stressalarme in der Amygdala auch ohne tatsächliche Lebensgefahr festsetzen. Wenn sie in einer ähnlichen wie der erlernten Situation erneut aktiviert werden, wird eine Stressreaktion ausgelöst, die uns daran hindert, souverän zu reagieren und zu handeln. Doch was heißt das für die Coaching-Praxis?
Ulrich Dehner beschreibt Coaching auf drei möglichen Ebenen: Stellen sich trotz Reflexion (Ebene 1) und Training auf der Verhaltensebene (Ebene 2) keine Coaching-Erfolge ein, liegt der Grund häufig in tief verwurzelten inneren Mustern. Sie blockieren das erwünschte Handeln und lassen sich trotz aller Veränderungsversuche nicht auflösen. In einer solch herausfordernden Coaching-Situation kann positive Veränderung bewirkt werden, wenn die dafür entscheidenden Amygdala-Alarme gelöscht werden. Und an dieser Stelle setzt das Introvisions-Coaching an. Die Methode zielt darauf ab, solche Muster zu erkennen und aufzulösen und ermöglicht eine tiefgreifende Selbstregulation auf mentaler Ebene.
„Die Introvision, kann man sagen, funktioniert immer dann, wenn die Dinge mit innerem Stress verbunden sind.”
Ulrich Dehner
Wer buchstäblich „unter Druck“ steht, findet sich in diesem Bild bestimmt wieder. Und wenn es soweit gekommen ist, dass Druck (=Stress) entstanden ist, macht es scheinbar Sinn, ihn durch Stressmanagement zu mindern bzw. mit ihm vermeintlich besser umzugehen, z.B. durch Sport, Atemtechniken oder ähnliches. So kann sozusagen „am Ventil gedreht“ werden.
Ulrich Dehner: Den Stress löschen statt ihn zu managen
„Die Introvision jedoch“, so Ulrich Dehner, „geht schlicht und ergreifend an die Platte und stellt sie ab“. Das heißt: Wenn kein innerer Alarm mehr anspringt, muss auch kein Stressmanagement erfolgen, weil gar kein Stress erzeugt wird. Statt den Stress zu managen, setzt die Methode darauf, den inneren Alarm in der Amygdala zu deaktivieren. Denn Alarme löschen sich, wenn ihnen keine Bedeutung mehr beigemessen wird und sofern sie keinen Sinn mehr für unser Gehirn ergeben, lösen sie keine Reaktion aus. Das Dumme jedoch ist: In dem Moment, wo wir dem Alarm Beachtung schenken, z.B. durch Stressmanagement wie Yoga, Atmen, Joggen oder ähnliches, bewältigen wir die Situation und bestätigen gleichzeitig den Alarm. Dehner sagt:
„Würden wir einfach den Alarm nur beobachten, dann würde er sich auch wieder auflösen. Weil er dann nichts mehr auslöst.”
Die Grundlage für seine Methode basiert auf der Forschung von Angelika Wagner an der Universität Hamburg, die sich in einer Studie mit Stress von Lehrer*innen befasst hat. In ihrer Forschungsarbeit stellte sich heraus, dass es in der Stress-Situation der Proband*innen immer etwas gab, was der „innere Imperativ“ genannt wird, also eine innere Stimme aus dem Unterbewusstsein, die sagt, etwas darf jetzt auf keinen Fall oder muss unbedingt passieren. Dieser Imperativ spielt in der Introvision eine entscheidende Rolle.
Ulrich Dehner über Alarme und Handlungen
So entwickelt Ulrich Dehner mit seinen Coachees eine Art „Trigger-Satz”, der diesen Imperativ angeht, der den Coachee blockiert. Die Folge: Die Amygdala schüttet die Stresshormone zwar aus, weil der Alarm angesprungen ist. Dabei soll keine Panikattacke ausgelöst, sondern nur ein Stück der Angst aktiviert werden, um den Alarm in Folge leer laufen zu lassen.
„Und das ist, was ich den Leuten immer sage: Es gibt in der Introvision nichts zu tun, das ist die gute Nachricht, nichts zu tun, außer wahrzunehmen, was aber nicht ganz einfach ist.“
Je nach Vorkenntnissen mit Körperwahrnehmungsarbeit, Meditation oder autogenem Training beispielsweise, führt er auch Vorübungen mit den Coachees durch, um sie auf die eigentliche Introvisions-Arbeit einzustimmen. Wer sich darauf einlässt, kann erfahrungsgemäß durch 10 bis 20 Wiederholungen und tägliches Üben mit der geführten Anleitung „seinen“ Alarm löschen, d.h. innerhalb von ca. drei Wochen.
Besondere Erfolge hat er in den letzten Jahren bei der Arbeit mit Phobien, Panik und Ängsten verschiedener Art und Ausprägung verzeichnet. Ein Arzt zum Beispiel, der mit bestimmten Patientengruppen lange nur schwer arbeiten konnte oder eine Kollegin, die in kürzester Zeit ihre Höhenangst nicht nur überwunden hat und sich später sogar zur Gleitschirmfliegerin ausbilden ließ. Er hat die Methode für sich selbst angewendet, um souverän Reden vor Publikum halten oder Interviews geben zu können.
Viele der inneren Alarme haben ihre Wurzeln in der Kindheit. Wer mithilfe der Introvision in die Lage versetzt wird, nicht mehr das einst verletzte Kind oder einen anderen inneren Anteil Regie führen zu lassen, sondern den Erwachsenen in der aktuellen Situation, kann den Alarm wahrnehmen und ihn ziehen lassen, ohne ihm weitere Beachtung zu schenken.
„Deswegen sage ich immer: Introvision ist für mich die radikalste Form der Selbstannahme. Wenn ich anfange, mich zu akzeptieren, mit allen Anteilen, kann ich diesen Teil integrieren. Und in dem Maß, wie ich ihn integriere, kann ich ihn auch heilen.“
Ulrich Dehner über den kleinen und den großen Ulrich
Neben einer Vorübung für eine „weite“ Wahrnehmung erleben wir eine Live-Introvision. Für das Anliegen der Teilnehmerin findet Ulich Dehner den passenden Imperativ und gestaltet die Übung sogar so, dass diejenigen, die damit ebenfalls identifizieren, mitmachen können. Nach der kurzen Sitzung, einer Art angeleiteter Meditation, die diesen Imperativ beinhaltet, lautet die Hausaufgabe: tägliches Hören dieses Audios, „damit sitzen“ und „wirklich nur wahrnehmen“.
Vielen Dank, lieber Ulrich Dehner, für deinen Einblick in die Welt der Imperative, der Amygdala-Alarme und der Introvision!